Eindeutigkeit oder Vielfalt – vom Kampf um die „eine Wahrheit“

Titelbild des Blogartikels "Eindeutigkeit oder Vielfalt - Vom Kampf um die eine Wahrheit"
In diesem Blogartikel geht es um das Thema Kampf und die verschiedenen Wahrheiten, die nebeneinander existieren können. Die Vorstellung, dass es nur eine gültige Wahrheit gibt, führt zu Kämpfen und Konflikten. Koexistenz verschiedener Wahrheiten ist das Ende der Kämpfe.

Gedanken über das Kämpfen

In den letzten Tagen habe ich mir viele Gedanken über das Thema Kampf gemacht. Einiges davon ist schon in die neueste Ausgabe des Podcasts Wandelwege eingeflossen. Ein paar weitere Gedanken möchte ich hier mit euch teilen.

Vielleicht liegt es an der Sonnenfinsternis, vielleicht auch an irgendetwas anderem, aber ich erlebe die Atmosphäre dieser Tage als sehr hart und kämpferisch. Es geht um Eindeutigkeit. Es geht darum, dass es für viele neben der eigenen Wahrheit keine andere Wahrheit geben kann.

Illustration koexistierende Wahrheiten

Meine Wahrheit ist nicht die einzige Wahrheit

Mir wurde vorgeworfen, dass ich, weil ich manchmal meine Wahrheit sehr deutlich sage, damit auch ausgrenzen und kämpfen würde. Aber ich sehe das nicht so. Für mich gibt es viele Wahrheiten, die gleichberechtigt nebeneinanderstehen können. 

Ich teile gerne meine Sichtweise. Von der bin ich auch überzeugt. Vielleicht regt sie dich zum Nachdenken an, vielleicht bestätigt sie dich, vielleicht inspiriert sie dich.

Vielleicht lehnst du sie auch ab. Wenn du sie ablehnst, bist du nicht mein Gegner, sondern nur jemand, der einen anderen Weg geht. Es gibt für mich keinen Grund mit dir zu kämpfen, um zu klären, wer recht hat. Wir können einfach auf unseren Wegen weitergehen, und es herausfinden. Aber ich habe das Gefühl, sehr viele andere Menschen sehen das nicht so. Sie wollen darum kämpfen, welche Wahrheit, „Die Wahrheit“ ist.

Illustration koexistierende Wahrheiten

Die Wurzeln des Zwangs zur „einen Wahrheit“

Ich glaube, das liegt daran, dass wir in einer Yang Welt, im Patriarchat leben. Yang verlangt nach Eindeutigkeit nach schwarz oder weiß, gut oder böse. Nach Entscheidung in einer dualen Welt. Warum ich die Sichtweise der „dualen Welt“ für schwierig halte, habe ich hier beschrieben.

Jedenfalls ist vielen von uns die Vorstellung, dass es mehrere Wahrheiten nebeneinander geben könnte, völlig fremd. Vielleicht ist die Idee von der einen gültigen Wahrheit eine Folge des patriarchalen Monotheismus. Eine Folge von „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“. Es ist eine historische Tatsache, dass die Gesellschaften, die es vor Einführung von Monotheismus und Patriarchat gab, um ein Vielfaches toleranter und weltoffener waren. Wenn es mehrere Göttinnen und Götter gibt, fällt es auch nicht schwer, mehrere Wahrheiten zuzulassen. Dieses Wissen, dass es nicht nur eine Wahrheit gibt, ist leider verloren gegangen.

Aus „meine Wahrheit“ und „deine Wahrheit“ wurde „die Wahrheit“, die neben sich keine andere Wahrheit mehr duldet. Und wenn es nur mehr eine Wahrheit gibt, dann muss eben darum gekämpft werden, welche Wahrheit das ist. Und alle anderen Wahrheiten verlieren ihre Existenzberechtigung.

Illustration koexistierende Wahrheiten

Angst um die Existenzberechtigung der eigenen Wahrheit

Und wenn ich mich selbst beobachte und frage, warum ich auf manche, die ihre Wahrheit als „die Wahrheit“ verkünden so emotional reagiere, dann wird mir klar: es geht um Angst. Es ist mir voll und ganz bewusst, dass meine Wahrheit in sehr vielen Fällen nicht die Wahrheit der Mehrheit ist und in einer Welt, in der nur eine Wahrheit gilt, hat meine Wahrheit keine Existenzberechtigung. Und wenn ich deshalb manchmal emotionaler diskutiere und kommentiere, dann nicht um anderen meine Wahrheit aufzuzwingen, sondern damit meine Wahrheit in einer Welt, die Vielfalt nicht aushalten kann, eine Existenzberechtigung hat. 

Und vielleicht steckt hinter dem unbedingten Willen von vielen, die eigene Wahrheit im Kampf allen anderen aufzuzwingen, auch die Angst, dass sonst die eigene Wahrheit nicht mehr gelebt werden kann. Aber die Lösung für diese Angst kann nicht Kampf sein. Im Gegenteil. Die einzige sinnvolle Lösung ist das Ende aller Kämpfe. Die friedliche Koexistenz aller Wahrheiten. Es könnte so einfach sein.

Illustration koexistierende Wahrheiten

Vielfalt ist das Ende der Kämpfe

Du kannst die absurdesten Verschwörungstheorien glauben, solange du nicht erwartest, dass sie jeder glaubt, weil sie „Die Wahrheit“ sind.

Du kannst heteronormativer cis Mann sein, durch und durch Alphajochen. Solange du nicht sagst, es sei nun mal „Die Wahrheit“, dass es nur zwei Geschlechter gibt und dass jedes dieser zwei Geschlechter eine vorgegebene Rolle zu erfüllen hat. Wenn du eine klassische Männer- oder Frauenrolle leben willst, dann tu es, aber lass die in Ruhe, die das nicht wollen. Homosexualität, Transsexualität, Bisexualität, non-binäres Leben, all das bedroht deine Leben als heteronormativer cis Mann nicht. Selbst wenn die ganze Welt auf einmal LGBTQ+ ist, kannst du ein heteronormativer cis Mann bleiben.

Du kannst total überzeugter Deutscher sein und deine deutsche Kultur in deinem Leben über alles stellen. Du kannst Vokslieder singen und Bier trinken. Der Nachbar, dessen Kultur vielleicht anders ist, nimmt dir doch nichts weg, wenn er seine Kultur im Nachbarhaus lebt. Und eine Fest-Beleuchtung während des Ramadans nimmt dir genauso wenig weg wie einem Muslim, die Fest-Beleuchtung zu Weihnachten wegnimmt. Und manchmal ist es vielleicht hilfreich, dort wo man sich begegnet, aufeinander Rücksicht zu nehmen. Es nimmt niemanden etwas weg, im Kindergarten und in der Schule auf Schweinefleisch zu verzichten. Wer das will, kann jederzeit zu Hause Schweinsbratwürste und Sauerkraut essen. Der Verzicht auf Schweinefleisch macht nur denen, deren Wahrheit es ist, kein Schweinefleisch zu essen, das Leben viel leichter. Genauso könnte man auch in Kitas und Schulen auf vegane Ernährung umstellen. Auch das nimmt uns nichts weg, solange man denen die gerne Fleisch essen (wie ich auch auch) es nicht verbietet, dass bei sich zu Hause zu tun. Und ich bin Felsenfest überzeugt. Wenn wir die Idee, dass es mehrere Wahrheiten gibt, zulassen, wird es uns unendlich leichtfallen, in allen Konfliktfällen, eine passende Lösung zu finden.

Es wäre in der Corona-Zeit vieles so viel leichter gewesen, wenn die Wahrheit „Ich lasse mich impfen, weil die Krankheit mir mehr Angst macht als die Impfung“ (was auch meine Wahrheit ist) gleichberechtigt neben der Wahrheit „Ich lasse mich nicht impfen, weil mir die Impfung mehr Angst macht als die Krankheit“ stehen hätte können. Und ja, natürlich hätte man sich dann auch über die Konsequenzen dieser Entscheidungen unterhalten und gemeinsame Lösungen für ein Miteinander von Geimpften und Ungeimpften finden müssen. Aber wenn man nicht gegenseitig diesen Ängsten die Existenzberechtigung abgesprochen hätte, hätte man die bestimmt gefunden.

Du kannst sogar um deine Wahrheit und deine Religion und dein Land, oder um was immer du willst, mit denen kämpfen, die auch kämpfen wollen. Aber lass die in Ruhe, die auf den Kampf schon lange keine Lust mehr haben. Wenn du in den Krieg ziehen willst, dann tu es, du wirst -leider- genug andere finden, die mit dir kämpfen. Aber lass die in Ruhe, die eine neue Welt der Vielfalt bauen wollen. Lass die in Ruhe, die sich mit folgenden Zeilen von Konstantin Wecker identifizieren können, und erkannt haben, dass jeder Kampf, jeder Krieg nur eine Folge von Verblendung und festgefahren sein in Normen ist und deshalb die Liebe mit sich alleine beginnen:

Wenn unsre Brüder kommen, mit Bomben und Gewehren, dann wolln wir sie umarmen, dann wolln wir uns nicht wehren.

Sie sehen aus wie Feinde, sie tragen Uniformen, sie sind wie wir verblendet und festgefahren in Normen.

Auch wenn sie anders sprechen, wir wollen mit ihnen reden. Es sollen die Präsidenten sich doch allein befehden!

Jedoch, bevor sie kommen, wär’s gut, sich zu besinnen. Ein jeder muss die Liebe mit sich allein beginnen.

(„Wenn unsere Brüder kommen“, Konstantin Wecker)

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Martin

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