Mikas Uhr: Eine Geschichte über Autismus, Neurodivergenz und Mobbing

Titelbild der Geschichte "Mikas Uhr"

Mika stieg aus dem Schulbus und stand am Rande der belebten Straße. Er beobachtete das Meer aus Gesichtern, das an ihm vorbeizog. Stimmen, Lachen, das Hupen von Autos – all diese Geräusche verschmolzen zu einem dröhnenden Klangteppich, der auf ihn einprasselte. Die Menschen bewegten sich scheinbar mühelos durch die Menge, während Mika das Gefühl hatte, gegen eine unsichtbare Strömung anzukämpfen. Es war, als wären die anderen Menschen eine Mauer, die auf ihn zu kam oder ihn umgab und es kostete jeden Tag all seinen Mut und all seine Kraft, dieser Mauer entgegenzutreten.

Er zog die Schultern hoch und versuchte, sich kleiner zu machen, als eine Gruppe laut lachender Jugendlicher an ihm vorbeiging. „Besser nicht auffallen“, dachte er sich. „Warum sind sie mir alle so fremd?“, fragte er sich. „Was mache ich falsch?“

In der Schule war es nicht anders. Die Pausenhöfe waren ein Labyrinth aus sozialen Regeln, die Mika überforderten. Wenn er versuchte, sich in Gespräche einzubringen, wurde er oft ignoriert oder mit verwirrten Blicken bedacht. Manchmal lachten seine Mitschüler, wenn er etwas sagte, obwohl er keinen Witz gemacht hatte. „Vielleicht wäre es besser, wenn ich einfach nichts sage“, dachte er. „Dann mache ich wenigstens nichts falsch.“

An diesem Tag betrat Mika den Klassenraum und setzte sich auf seinen Platz. In seinem Schulranzen hatte er ein kleines Kuscheltier versteckt – einen Waschbären, den er von seiner Großmutter bekommen hatte. Das Kuscheltier gab ihm in schwierigen Momenten Trost, aber er wusste, dass es Anlass zu Spott geben könnte, deshalb versuchte er, so gut es ging, den Waschbär in seinem Schulranzen zu verstecken.

Als die Klasse aus der Pause zurückkam, bemerkte Mika, dass sein Ranzen offen stand. Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Paul, der lauteste Junge in der Klasse, hielt den Waschbären hoch in die Luft. „Schaut mal, was ich hier gefunden habe! Ein Kuscheltier! Gehört das dir, Mika?“, rief er höhnisch.

Illustration eines Jungen im Autismus-Spektrum der von seinen Mitschülern ausgelacht wird

Mika hatte das Gefühl, in einen Abgrund zu fallen. Sein Herz setzte einen Moment aus. „Bitte gib ihn zurück!“, rief er, seine Stimme zitterte.

Die Lehrerin war noch nicht wieder in der Klasse angekommen und er wusste sowieso nicht, ob sie ihm helfen würde. Paul schwenkte den Waschbären spöttisch hin und her. „Bist du nicht ein bisschen zu alt für so was? Willst du ihn wiederhaben? Dann hol ihn dir doch!“, provozierte er.

Einige Mitschüler kicherten, andere schauten neugierig zu. Mika spürte, wie alle Blicke auf ihm ruhten. Ein Gefühl der Hilflosigkeit überkam ihn, gefolgt von aufsteigendem Zorn. „Gib ihn mir zurück!“, rief er erneut, diesmal lauter.

„Was willst du tun?“, fragte Paul herausfordernd. „Du könntest ja ein bisschen heulen, so wie du das sonst immer tust.“

Etwas in Mika riss. All die unterdrückten Gefühle der letzten Wochen – Frustration, Traurigkeit, Wut – brachen hervor. Mit einem lauten Schrei stürzte er auf Paul zu und versuchte, ihm den Waschbären aus der Hand zu reißen. Überrascht von Mikas plötzlicher Reaktion, taumelte Paul zurück. „Hey, bist du verrückt geworden?“, rief er.

In diesem Moment betrat Frau Schneider, die Lehrerin, den Raum. Ihr Blick fiel auf das Chaos: Mika, der außer sich war, Paul, der sich schützend die Arme vors Gesicht hielt, und die verstörten Gesichter der anderen Schüler.

„Mika! Sofort aufhören!“, rief sie mit scharfer Stimme.

Mika erstarrte, die Realität kehrte mit voller Wucht zurück. Er bemerkte die Angst in den Augen seiner Mitschüler und spürte plötzlich Scham und Verwirrung. Tränen stiegen ihm in die Augen.

Frau Schneider trat zwischen die beiden Jungen. „Was ist hier los?“, fragte sie streng.

Paul zeigte auf Mika. „Er ist völlig ausgerastet und hat mich angegriffen!“

Mika öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken. „Er hat mir meinen Waschbären weggenommen…“, flüsterte er schließlich.

Frau Schneider seufzte. „Kuscheltier in der Schule? Mika, du weißt, dass persönliche Gegenstände während des Unterrichts nicht erlaubt sind. Und Gewalt ist keine Lösung. Komm mit ins Büro.“

Im Büro der Lehrerin saß Mika auf einem harten Stuhl und starrte auf seine zitternden Hände. Sein Herz schlug noch immer wild, und Tränen liefen über seine Wangen.

„Mika, dein Verhalten ist inakzeptabel“, sagte Frau Schneider kühl. „Unabhängig von den Umständen rechtfertigt nichts einen solchen Ausbruch. Ich werde deine Eltern kontaktieren, und du wirst eine Strafarbeit erhalten.“

„Aber er hat angefangen…“, versuchte Mika zu erklären, doch sie hob die Hand.

„Das ist jetzt nicht das Thema. Du wirst einen Aufsatz darüber schreiben, wie man Konflikte gewaltfrei löst.“

Als Mika die Schule verließ, fühlte er sich leer und missverstanden. Die Sonne schien grell, und die Geräusche der Stadt waren lauter denn je. Im Schulbus setzte er sich auf einen Platz nahe der Tür. Hinter ihm hörte er das Getuschel seiner Mitschüler.

„Wir sollten ihm heute einen kleinen Streich spielen“, flüsterte jemand.

„Ja, lassen wir ihn nicht aussteigen. Mal sehen, wie er reagiert. Vielleicht rastet er ja wieder aus“, kicherte eine Stimme.

Panik stieg in Mika auf. Als der Bus an der nächsten Haltestelle hielt, sprang er abrupt auf und verließ den Bus, bevor die Türen sich schlossen. Er stand nun auf einer ihm unbekannten Straße. Der Bus fuhr davon, und er atmete tief durch. Zumindest war er die anderen für den Moment los.

Langsam begann er, die Straße entlangzugehen, ohne genau zu wissen, wohin er wollte. Nach einigen Minuten entdeckte er eine schmale Gasse zwischen zwei alten Gebäuden. Neugierig bog er ein und fand am Ende der Gasse eine verlassene und verfallende Werkstatt. Die Tür stand einen Spalt offen.

Zögernd trat er ein. Der Raum war erfüllt von dem Duft nach Holz und Metall, und Staubpartikel tanzten im schummrigen Licht. Überall lagen Werkzeuge, Zahnräder und mechanische Teile verstreut.

In einer Ecke entdeckte Mika eine antike Uhr. Sie war wunderschön verziert, aber vermutlich kaputt. Er versuchte, sie aufzuziehen und sie begann tatsächlich zu laufen. Aber ihr Ticken war unregelmäßig, fast wie ein stolpernder Herzschlag. Fasziniert nahm er sie in die Hand und lauschte dem seltsamen Rhythmus. Etwas an dieser Uhr fühlte sich vertraut an. „Du tickst auch nicht richtig, hm?“, murmelte er leise.

Die nächsten Stunden verbrachte Mika damit, die Uhr vorsichtig zu untersuchen. Er versuchte, sie zu reparieren, damit sie wieder „richtig“ tickte. Doch egal, was er unternahm, das unregelmäßige Ticken blieb.

Erschöpft ließ er sich auf einem alten Hocker nieder. Seine Gedanken waren ein Wirrwarr aus Schmerz, Wut und Verwirrung. „Vielleicht ist die Uhr so wie ich“, dachte er. „Egal, wie sehr ich mich bemühe, ich passe einfach nicht. Vielleicht bin ich einfach genauso kaputt wie diese Uhr.“

Illustration eines Jungen im Autismus Spektrum, der an einer Uhr arbeitet

In der Stille der Werkstatt begann er erneut, dem Ticken zu lauschen. Diesmal jedoch ohne das Bedürfnis, es zu ändern. Er schloss die Augen und ließ den Rhythmus auf sich wirken. Das unregelmäßige Ticken formte eine einzigartige Melodie, die beruhigend auf ihn wirkte.

Er öffnete die Augen und betrachtete die Uhr mit neuen Gefühlen. „Vielleicht musst du gar nicht repariert werden“, flüsterte er. „Vielleicht bist du genau richtig, so wie du bist.“

Die Erkenntnis traf ihn tief. Wenn die Uhr, trotz ihres unkonventionellen Tickens, ihren eigenen Wert hatte, konnte das dann auch für ihn gelten? Ein Gedanke wuchs in Mika. Vielleicht war er nicht falsch – nur anders.

Mit neuem Elan begann er, ein Gehäuse für die Uhr zu bauen, das ihre Einzigartigkeit betonte. Er schnitzte Muster ins Holz, die das unregelmäßige Ticken visuell widerspiegelten. Während er arbeitete, fühlte er zum ersten Mal seit langer Zeit einen inneren Frieden.

Als die Dämmerung einsetzte, entschied er sich, nach Hause zu gehen. Er trug die Uhr bei sich und fühlte sich leichter als zuvor. Die Geräusche der Stadt waren immer noch laut, die Menschen immer noch schwer zu verstehen. Aber jetzt hatte er etwas, das ihn daran erinnerte, dass Anderssein vielleicht doch keine Schwäche war.

Die Welt um ihn herum hatte sich nicht verändert. Sie war immer für Mika immer noch bedrohlich, chaotisch und voller Rätsel. Aber Mika machte sich auf den Weg, seinen Platz darin zu finden, ohne sich selbst zu verlieren. Er hatte erkannt, dass er nicht kaputt war – er tickte nur anders. So wie die Uhr. Und das war genau richtig so.

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Martin

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