Die Melodie des Friedens

Es war eine Zeit, in der die Menschen zwischen den Reichen der roten und schwarzen Drachen lebten. Die beiden Drachenvölker, einst in Freundschaft vereint, führten nun seit Generationen Krieg gegeneinander. Niemand wusste mehr, warum der erste Schlag geführt worden war, doch jede Verletzung, jeder Angriff wurde mit noch größerer Wut und Zerstörung beantwortet. Die roten Drachen griffen die Städte des schwarzen Reiches an, und die schwarzen Drachen antworteten mit Feuer, das ganze Dörfer niederbrannte. Und so ging es immer weiter, ohne Ende in Sicht.

Die Menschen litten darunter, ihre Häuser und Felder wurden von den Drachen verwüstet. Doch anstatt nach Frieden zu rufen, jubelten sie jeder Attacke des Drachenvolkes zu, dem sie sich zugehörig fühlten. Denn in ihren Herzen hatten sie den Hass der Drachen angenommen. Die Menschen des roten Reiches hassten die schwarzen Drachen, und die Menschen des schwarzen Reiches verfluchten die roten Drachen. Sie glaubten, es gäbe keinen anderen Weg als die vollständige Vernichtung des anderen Volkes.

Inmitten dieser Zeit des Krieges und der Zerstörung lebte ein junges Mädchen namens Shira. Sie wuchs in einem Dorf im Reich der roten Drachen auf. Ihre Familie, besonders ihr älterer Bruder Toran, war stolz darauf, die Drachen zu unterstützen. Toran hatte sich als junger Mann freiwillig gemeldet, um in den Kämpfen zwischen den Drachen als Bote zu dienen. Er war überzeugt, dass die roten Drachen eines Tages den Sieg erringen würden, und sprach oft davon, wie großartig es wäre, wenn das schwarze Drachenvolk endlich ausgelöscht wäre.

Doch Shira sah den Krieg anders. Sie spürte das Leid der Menschen, sah die Tränen der Mütter, die ihre Kinder verloren hatten, und hörte das Weinen der Waisen. Sie wusste, dass die Menschen im Reich der schwarzen Drachen genauso litten. Immer wieder stellte sie sich die Frage, warum der Krieg kein Ende nahm und wieso niemand versuchte, den Kampf zu beenden. Shira träumte von einer Welt, in der die Drachen nicht gegeneinander kämpften, sondern in Harmonie lebten. In den alten Geschichten, die ihre Großmutter ihr erzählt hatte, gab es ein Lied, das Frieden bringen konnte, ein uraltes Lied, das von den Zeiten berichtete, als Menschen und Drachen in Eintracht lebten.

Eines Nachts hatte Shira einen Traum. Sie sah einen großen, majestätischen Drachen, dessen Schuppen in allen Farben des Regenbogens glänzten. Der Drache sprach kein Wort, aber sein Blick sagte alles: Es gibt einen anderen Weg. Als sie aufwachte, wusste Shira, dass sie handeln musste.

Nicht lange nach diesem Traum wurde das Dorf, in dem Shira lebte, von schwarzen Drachen angegriffen. Sie flogen über die Stadtmauern hinweg, fauchten und spuckten Feuer. Die roten Drachen waren auch bereits aufgestiegen, um als Gegenschlag ein Dorf im Reich der schwarzen Drachen zu zerstören. Doch Shira konnte es nicht mehr ertragen. Sie spürte, dass dieser ewige Kreislauf aus Hass und Vergeltung nicht nur die Drachen, sondern auch die Menschen zerstörte. Entschlossen rannte sie aus dem Haus, ohne auf die Rufe ihrer Familie zu hören, und stellte sich auf den Dorfplatz, während die Drachen über ihr kreisten.

Dann begann sie zu singen.

Illustration zum Text "Die Melodie des Freidens"

Es war ein sanftes, leises Lied, doch die Melodie trug sich über den Wind. Es war das uralte Lied des Friedens, das ihre Großmutter ihr gesungen hatte, als sie noch ein Kind war. Die Menschen im Dorf schauten auf, einige lachten über Shira und ihren Mut, doch die meisten nahmen ihre Worte nicht ernst. Die roten Drachen erhoben sich, bereit, den schwarzen Drachen entgegenzutreten, doch Shira sang weiter, als wären sie alle unsichtbar für sie.

Ihr Bruder Toran stürmte durch die Menge und packte sie am Arm. Seine Augen blitzten vor Wut. „Shira, was denkst du, was du da tust?“ schrie er. „Hör auf mit diesem Unsinn! Wir müssen kämpfen, wir müssen zurückschlagen! Wir müssen die roten Drachen in ihrem heldenhaften Kampf unterstützen! Das ist der einzige Weg, unsere Heimat zu schützen!“

Shira schüttelte den Kopf und entwand sich seinem Griff. „Was soll daran heldenhaft sein, Tod und Zerstörung über die Bewohner des anderen Landes zu bringen? Gewalt bringt nur mehr Gewalt. Wie viele Dörfer müssen noch brennen? Wie viele Menschen müssen noch sterben, bevor wir aufhören?“

„Du verstehst das nicht!“, rief Toran und trat einen Schritt auf sie zu. „Wenn wir nicht kämpfen, werden wir vernichtet! Sie werden uns alle töten, wenn wir nicht zurückschlagen!“

Shira sah ihrem Bruder fest in die Augen. „Und glaubst du, dass unser Hass anders ist als ihrer? Jeder Angriff, den wir führen, bringt nur mehr Zerstörung. Es muss einen anderen Weg geben.“

Toran funkelte sie an. „Das sind die Worte eines Kindes! Du verstehst nichts von Krieg und was es bedeutet, ein ganzes Volk zu verteidigen. Du gefährdest uns alle!“

Trotz seiner Wut blieb Shira ruhig. „Ich habe vielleicht nicht deine Erfahrung, Toran, aber ich weiß, dass Hass uns nicht retten wird. Ich werde weitersingen, und du kannst mich nicht davon abhalten.“

Toran warf die Hände in die Luft und schüttelte den Kopf. „Du wirst uns alle ins Verderben stürzen, Shira. Die Drachen werden dich zerreißen, und ich werde nichts dagegen tun können.“

Shira blieb fest. „Dann ist es so. Aber ich werde nicht zusehen, wie dieser Krieg uns alle zerstört.“. Sie wandte sich von Toran ab und begann wieder, ihr Lied zu singen.

Die schwarzen Drachen stürzten sich herab, ihre Krallen blitzten im Licht der Sonne. Die roten Drachen antworteten mit einem gewaltigen Schrei, und es schien, als würde die Schlacht nun endgültig beginnen. Aber inmitten dieses Chaos hörte man Shiras Lied. Zunächst war es schwach, doch dann begannen andere Stimmen, die ihre Melodie vernahmen, mitzusingen. Zuerst nur eine alte Frau, die am Rande des Dorfplatzes saß, dann einige Kinder. Bald sangen immer mehr Menschen, erst zaghaft, dann immer lauter. Die rote Drachenarmee flog hoch in den Himmel, um sich auf die schwarzen Drachen zu stürzen, doch Shira und ihr wachsender Chor sangen weiter.

Einige der roten Drachen schwenkten ab und schauten erstaunt auf die singenden Menschen hinunter. Auf der anderen Seite des Himmels, im Land der schwarzen Drachen, geschah das Gleiche. Auch dort begannen die Menschen, Shiras Lied zu singen. Zuerst leise, dann lauter, bis es von allen Seiten erklang.

Die Drachen, die bereits in der Luft zum Angriff ansetzten, hörten auf und sahen sich verwirrt um. Der Kampf schien sinnlos, als das Lied des Friedens die Herzen aller erreichte. Langsam ließen die Drachen davon ab, sich mit ihrem Feuer zu bekämpfen, und nach und nach verstummten die Schreie des Krieges.

Es war, als würde ein Schleier der Dunkelheit von den Augen der Drachen fallen. Sie sahen die Zerstörung, die sie angerichtet hatten, und erkannten, dass sie nur weiteren Schmerz verursacht hatten. Der Krieg, den sie so lange geführt hatten, hatte sie nur zu Gefangenen ihres eigenen Hasses gemacht. Shira hatte den Kreislauf durchbrochen, und mit ihr die Menschen, die nicht länger bereit waren, Gewalt mit Gewalt zu beantworten.

Toran, der die Szene beobachtete, konnte nicht glauben, was er sah. Etwas in ihm wollte unbedingt an der Idee vom heldenmütigen Kampf gegen die Feinde festhalten. Aber er erkannte auch, welche furchtbare Zerstörung der Krieg über die Welt gebracht hatte und dass es gut war, dass es vorbei war. Zögernd trat er auf Shira zu. „Ich habe mich geirrt,“ flüsterte er, „wir alle haben uns geirrt.“ Shira nahm seine Hand, und zusammen sangen sie weiter, bis das letzte Echo des Krieges verklungen war.

Von diesem Tag an herrschte Frieden zwischen den roten und schwarzen Drachen, und das Lied des Friedens wurde in beiden Reichen von Generation zu Generation weitergegeben, damit nie wieder Hass die Herzen der Menschen und Drachen vergiftete.

Illustration zum Text "Die Melodie des Freidens"

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Weitere Beiträge lesen...

Martin

Hi, ich bin Martin!

Musiker, Autor und Weltverbesserer. Hier auf meinem Blog teile ich meine Gedanken und Texte mit euch…

Kategorien

Suche

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner